Regeln – das Ende meiner Freiheit oder größtmögliche Freiheit für alle

Auszug aus dem Buch „Werden? Ich bin doch schon!“

Wenn man Schulmitglieder fragt, was ihnen an der NSH besonders gut gefällt, antworten einige: »Dass ich hier machen kann, was ich will.« Diese durchaus positive Einschätzung der eigenen Situation bedarf aber einer entscheidenden Ergänzung: »Im Rahmen der von uns gemeinsam festgelegten Regeln und Regelungen.« Rückt dieser Zusatz aus dem Bewusstsein, führt das unweigerlich zu Konflikten.

Aber warum? Wären wir nicht alle viel freier und glücklicher, wenn wir einfach tun und lassen könnten, was wir gerade wollen? Wohl kaum. Die schöne Vorstellung, dass wir weder in der Schule noch außerhalb Regeln bräuchten, weil es so etwas wie eine »kollektive Vernunft« oder eine »überindividuelle Wahrnehmung und Berücksichtigung möglicher Interessen anderer« gibt, wird wohl weiterhin eine sehnsuchtsvolle Utopie bleiben. Dennoch wage ich die These, dass wir in unserem persönlichen Umfeld am liebsten ohne Reglementierung leben und uns der gefühlten Selbsteinschränkung erst dann – mehr oder weniger widerwillig – aussetzen, wenn die uneingeschränkte Selbstentfaltung anderer die eigene übermäßig behindert.

So war es auch in den Anfangszeiten der NSH, die ohne jede interne Regel startete. Gegenseitiges Auf-die Nerven-Gehen bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen führten sehr schnell – um genau zu sein nach zwei Tagen – zur Einführung einer ersten Regel, der STOPP-Regel, die bis heute Bestand hat und die von den allermeisten Schulmitgliedern noch immer als die wichtigste gilt: »Mitschüler und Mitarbeiter können Stopp sagen, wenn sie sich gestört, bedrängt etc. fühlen und werden dann sofort in Ruhe gelassen!«
Hinzu kamen nach und nach Regeln, die zwischen Bewegungsdrang und Ruhebedürfnis im Haus vermitteln sollen, solche, die den Umgang mit elektronischen Medien, die Reinigung des Schulgebäudes, die Nutzung bestimmter Gegenstände und die Zugangsbedingungen zu bestimmten Räumen beschreiben.

Darauf blieb es natürlich nicht begrenzt. Derzeit umfasst unser Regelwerk etwa 150 Einträge unterschiedlichster Kategorien, die auf mehr als 50 DIN-A4-Seiten in unserem »Goldenen Regelbuch« – unsere NSH-interne »Gesetzgebung« – festgehalten sind. (Das Regelbuch ist übrigens wirklich »golden«: Jemand hat den Ordner, in dem die Blätter abgeheftet sind, mit Goldfolie beklebt.) Da Regelungen in der wöchentlichen Schulversammlung (SV) per Mehrheitsbeschluss eingeführt, geändert oder abgeschafft werden können, kommen laufend neue Einträge hinzu, werden bestehende geändert oder gänzlich gestrichen.

Möchte jemand also auf Basis unserer Regeln Auseinandersetzungen von vornherein vermeiden, oder wollen wir, wie im Lösungskomitee (LK), Regelverstöße ahnden können, muss uns erst einmal der Zugriff auf alle aktuellen Regelungen möglich sein. Kurzfristig wird das durch Aushang des neuesten SV-Protokolls erreicht, auf längere Sicht bleibt nur das Regelbuch, das frei zugänglich und hoffentlich auf neuestem Stand, im Office zu finden ist.

Und was machen Kinder, die noch nicht lesen können? Ganz einfach: Entweder sie fragen größere Schüler oder Erwachsene, ob es zu diesem oder jenem eine Regel gibt, oder sie werden spätestens dann darauf hingewiesen, wenn sie etwas machen, mit dem sie das Regelbuch auf den Plan rufen. Möglicherweise erfahren sie auch erst im LK von der Regel, was meist auch nicht tragisch ist. Spätestens dann sprechen sich Einträge erstaunlich schnell herum.

Aus Fehlern lernen

Natürlich haben auch wir diesen Prozess Schritt für Schritt erlernt und von unseren Fehlern profitiert. Als etwa das Amt des »Regelbuchwarts« einige Zeit nicht besetzt war, realisierten wir anfangs die Tragweite dieses Umstandes, der spürbar negative Auswirkungen auf unsere Arbeit im Lösungskomitee hatte, nicht schnell genug. Dort zeigte sich, dass in der SV zwar neue Regeln abgestimmt worden waren, diese ohne Übertragung ins Regelbuch jedoch ohne Wirkung auf unser juristisches System blieben. Im höchsten Gremium der Schule wurden also Beschlüsse gefasst, die nicht umgesetzt oder angewendet werden konnten, weil bestenfalls ein Teil der Schulmitglieder von deren Existenz eine Ahnung, keinesfalls aber alle Kenntnis davon haben konnten. Unsicherheit in den LK-Teams und Unzufriedenheit mit den dort getroffenen Entscheidungen waren die Folge.

Eine Schülerin, die ebenfalls im LK mitarbeitet, beendete diesen intransparenten und unproduktiven Zustand, indem sie das Regelbuch unter Rückgriff auf noch nicht ausgewertete SV-Protokolle auf den neuesten Stand brachte. Und dann? Jetzt nicht nachlassen, ab sofort wieder jede Woche die Änderungen eintragen, diese mit dem SV-Datum versehen, dem Regelbuch eine Versionsnummer zuordnen und dann gleich ausdrucken. Aber wer würde das tun?

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