Cardistry

Auszug aus dem Buch „Werden? Ich bin doch schon!“

Als ich das erste Mal mit Cardistry in Berührung kam, wollte ich eigentlich gerade etwas ganz anderes lernen. Ich schaute mir ein Tutorial für einen Kartentrick auf YouTube an und im Intro des Videos waren ein paar Flourishes enthalten. Ich war sofort begeistert von der Geschwindigkeit und der Sicherheit, mit der der Ersteller des Videos die Karten manipulierte und spielte mit dem Gedanken, wie es wohl wäre, wenn ich so etwas tun könnte.

Ich entschied mich, es einfach zu versuchen und holte mir ein Kartendeck aus dem Spieleschrank in unserem Wohnzimmer. Ich nahm es aus der Schachtel und hielt es in der Hand. Es fühlte sich komisch an, die Kanten waren seltsam scharf und mir fielen immer wieder einzelne Karten herunter. Also ging ich wieder ins Internet und überlegte, was ich eingeben sollte. Der Begriff Cardistry war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt. Ich schrieb einen Kommentar unter das besagte Video, in dem ich fragte, wie denn diese »gekonnten Bewegungen mit den Karten« genannt werden und mir wurde der Begriff Flourish zugespielt. Neuer Tab also, Google geöffnet und »Flourish tutorials« eingegeben. Neben vielen Bildern von blühenden Blumen und Tattoo-Motiven fand ich tatsächlich auch einige Videos, die mit Spielkarten zu tun hatten und versprachen, grundlegende Techniken zu erklären. Also klickte ich auf Play … und dann gleich wieder auf Pause. Das Video war auf Englisch. »Toll«, dachte ich, hätte man sich ja denken können, dass so ein Nischenthema nicht auf Deutsch behandelt wird. Und mit meinen damaligen elf Jahren stellte dies tatsächlich eine größere Herausforderung dar. Ich versuchte es dennoch, mimte die Griffe und Bewegungen, die auf dem Bildschirm vorgestellt wurden, und stellte sogar erste Parallelen zu meinen spärlichen Englischerfahrungen aus dem Grundschulunterricht fest. Und dennoch scheiterte ich. Jämmerlich. Ich versuchte es wieder und wieder, doch selbst die einfachsten Grundlagen fielen mir unerwartet schwer.

Ich war entmutigt und ließ es bleiben, wie so oft zuvor, wenn ich etwas Neues lernen wollte und es nicht auf Anhieb klappte.

Aber diesmal war doch etwas anders. Nach ein paar Tagen, als ich das Video erneut anschaute, kam dieses starke Gefühl wieder, ich wollte unbedingt können, was ich in dem Video sah. Also sagte ich mir, du kannst das, nahm die Karten und versuchte es weiter, probierte andere Ansätze aus und stellte Fragen in den Kommentaren. Ich nutzte jeden Moment, ob zu Hause oder in der Schule, um weiter zu üben. Ich schaute das Video wieder und wieder, bis ich auch die letzten in dieser unbekannten Sprache verpackten Informationen für mich entschlüsselt hatte. Und nach ein paar Wochen konstantem Training gelangen mir tatsächlich die ersten Flourishes. Ich fühlte mich großartig, denn ich wusste, dass ich auch einfach hätte aufgeben können, doch ich hatte mich entschieden, dranzubleiben, und am Ende hatte es sich ausgezahlt. Von diesem Moment an hatte ich immer Karten in der Hand, zu Hause beim Essen, während Bahnfahrten und vor allem in der Schule.

Ich wurde schnell besser und investierte während der ins Land gehenden Wochen, Monate, Jahre immer mehr Zeit in meine bald nicht mehr ganz so neue Leidenschaft. Doch mit meiner steigenden Faszination für die Kartenkunst stieg auch die Verständnislosigkeit außenstehender Personen. Fragen wie »Und wann lernst du für den Abschluss, wenn du in der Schule den ganzen Tag nur mit Karten spielst?« waren an der Tagesordnung. Dass ich meine gesamten Englischkenntnisse über den Austausch mit anderen internationalen Cardists im Internet und durch Tutorialvideos erworben hatte, wurde da natürlich außer Acht gelassen.

Interessanterweise sind mir bisher nur erwachsene Menschen begegnet, die der Gestaltung meines Schulalltags direkt von Beginn an so negativ gegenüberstanden. Jugendliche, die häufig noch mitten in ihrer Schulzeit stecken, sind dazu meist viel positiver eingestellt und könnten sich so etwas vielleicht sogar für sich selbst vorstellen. Und doch sind die Stimmen der Erwachsenen, die aufgrund ihrer Erfahrung ja bekanntlich vieles besser wissen, fast immer die lautesten. Für den Moment seien solche Lebensentwürfe ja ganz schön, ist eine der Aussagen, auf die ich am öftesten in Gesprächen über mein Schulsystem stieß, aber ewig kann das ja nicht funktionieren. Doch wenn man mal Schüler fragt, Menschen, die nicht schon seit Jahrzenten kein Klassenzimmer mehr von innen gesehen haben, sondern täglich mehrere Stunden in einem verbringen, kristallisiert sich schnell ein meines Erachtens berechtigter Wunsch nach mehr interessensorientiertem Lernen heraus. Und in eben diesen Fällen sind es dann oftmals doch die Eltern, die plötzlich glauben, den Wert des eigenen Kindes nur noch an Zahlen von eins bis sechs festmachen zu können. Sollten die Noten dann doch mal nicht zufriedenstellend sein, wird das Problem in der Regel nicht im Zusammenspiel von Individuum und System, sondern nur beim Kind gesucht und mit Etiketten wie »Lernstörungen« und »Aufmerksamkeitsdefizite« wild drauflos diagnostiziert. Eigene Projekte und Hobbys werden, solange es nicht unbedingt das akustische Musikorchester ist, immer seltener als sinnvoll akzeptiert. Das halte ich für einen fatalen Irrglauben, was sich mir persönlich im Juli 2016 bestätigte.

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